Tonsur, Schleier, Vokuhila Haar & Religion

60 Seiten, broschiertErscheinungsjahr: 2024ISBN: 978-3-88423-714-4
EUR 29,00 (D) erscheint: September 2024
Tonsur, Schleier, Vokuhila

Über dieses Buch

Das Haar ist Ausdruck von Schönheit und Zugehörigkeit, Jugend und Reife, Vitalität und Persönlichkeit; das Haar ist Fetisch, soziale Metapher und Krönung der Schöpfung – von der Wurzel bis in die Spitze. Idole, Kult und Mode beeinflussen, wie uns das Haar gekrümmt oder geglättet wird. Im Friseursalon, dem Barbershop, dem Hundestudio, beim Waxing und Sugaring beschwören die Hohepriester:innen mit Kamm und Schere unsere Häupter: Sie zupfen, massieren, striegeln und rasieren. Dabei sind die Wirkstätten unabdingbarer Ort der menschlichen Nähe, Verhandlungsräume von Respekt und Intimität, Orte der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, des Konsums und der Dienstleistung, aber auch des Gesprächs und des Gegenübers.

Paul-Henri Campbell hat sich mit Friseuren, auch Hundefriseuren, mit Historikerinnen, Museumsmitarbeitern, Sozial- und Bibelwissenschaftlerinnen, Ordensleuten und anderen Experten aus Wien, Heidelberg, Triest und anderen Städten unterhalten. Dabei sprachen sie über ihr Selbstverständnis, ihre Erfahrungen im Beruf, das Studio als Arbeits- und Begegnungsort. Auch die Dynamik des Arbeitsumfelds wird in diesen Gesprächen in all ihrer menschlichen Wärme und prekären sowie urbanen Durchmischung sichtbar.

So erkunden diese Gespräche eine religiöse Dimension des Haaretragens und Haareschneidens, die einmal explizit kultisch informierte Stile aufgreift, einmal assoziativ und in Überlappungen mit dem Phänomen der Spiritualität, Glaube und persönlicher Frömmigkeit in Berührung kommt. Es geht um das menschliche Antlitz – seine struppige Anziehungskraft und seine zersplissene Vieldeutigkeit.

Interviews u. a. mit dem Friseurweltmeister Mario Krankl (Salzburg), der Branchenkennerin und Journalistin Raphaela Kirschnik, dem Barber Florin Kandaluta aus dem vom Musikproduzenten RAF Gomora gegründeten Wiener Salon [R], der Friseurmeisterin Christine Wegscheider, dem Mitbegründer der Barber Angels Markus Assel (Kärnten), dem Enfant terrible und Promi-Figaro Josef Winkler (Wien), der Hundefriseurin Krisztina Peres, der Künstlerin Regine von Chossy (München) sowie Gespräche mit dem Diözesankonservator und Kirchenhistoriker Prof. Dr. Matthias Theodor Kloft, der Bamberger Bibelwissenschaftlerin Prof. Dr. Katharina Gies und Prof. Dr. Miriam Oesterreich von der Universität der Künste Berlin.

Zitate

»In Österreich machen Friseure und Friseurinnen täglich 100.000 Kundenkontakte. Das sind 2.000 Stunden Zuwendung pro Friseur im Jahr.«

»Doch auch keine politische Bewegung scheint vollständig, ohne eine stilgebende Haartracht: Von der schwerelosen Goldbräune des Donald-J-Trump-Barnets, dem dämonisch-ikonischen Zweifingerbart Adolf Hitlers, über das weiße, schwarzlinierte Arafat-Kopftuch (der arabische Kefije), den Bubikopf und Bob bei Suffragetten oder grelle neonfarbige Kurzrasuren der 3. und 4. Wave Feministinnen, bis hin zu den anarchistischen Punkfrisuren, die Varianten von Dreadlocks und Afro oder dem G.I.-Haircut frei nach Elvis. Der Haar-Stil sowie die Typen seiner Bedeckung sind eine unübersehbare soziale Metapher, die nicht selten zeigt, was in den Köpfen steckt.«

»Die Ideologinnen und Ideologen dieser haarigen Propaganda jedoch sind nicht die üblichen Verdächtigen, die sich mit Manifest und Pamphlet wortreich in die Öffentlichkeit drängen. Stattdessen finden wir sie in einem meist nicht akademisierten Milieu, in einer Profession, die nicht unbedingt einen hohen Status und viel Prestige besitzt, in der kapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft rubriziert als körpernaher Service gegen Geld, meist dominiert und manipuliert von den großen Herstellern von Pflege- und Stylingprodukten.«

Paul-Henri Campbell

Paul-Henri Campbell, geboren 1982 in Boston, studierte katholische Theologie und klassische Philologie in Frankfurt/Main sowie an der National University of Ireland, Maynooth. 2017 erhielt er den Bayerischen Kunstförderpeis und 2018 den Herrmann-Hesse-Förderpreis. Er veröffentlichte die Gedichtbände Space Race (2015) und nach den narkosen (2017) sowie den Interviewband zu Tattoos und Religion, Die bunten Kathedralen des Selbst (2019). Zuletzt erschien der Gedichtband innere organe (2022). Er lebt in Unterfranken und Wien.

Kurt Wolff-Stiftung
Wir unterstützen die Arbeit der Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene: www.Kurt-Wolff-Stiftung.de
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